Sie saßen auf dem schmalen
Fensterbrett des eisigen Zimmerchens unter dem Dach und schauten, während sie
einander im Arm hielten, unverwandt durch das Fenster zum Mond hinauf. Der Mond
stand als kaltblaue Kugel vor dem nachtschwarzen Sternenvorhang und lächelte
gütig, lautlos und unbeweglich auf sie herab.
Da oben klettert sie. Siehst
Du die Himmelsleiter? Sie ist ganz hoch und schmal, sagte Johannes.
Kann sie da nicht
herunterfallen?
Wenn sie sich festhält,
nicht, sagte Johannes. Er sah ganz deutlich die Leiter und auch die
winzig-einsame Gestalt darauf, die langsam, Sprosse für Sprosse, ihrem Ziel entgegenstrebte.
Das Ziel war das Himmelstor und lag auf der Rückseite des Mondes. Es schien ihm
logisch, daß es vom Mond aus in den Himmel ging. Der Mond war mit einer Leiter
gut zu erreichen, er war freundlich und würde der einsamen Gestalt weiterhelfen.
Siehst Du? Sie wird immer
kleiner. Bald ist sie oben.
Ist sie allein ?
Nein. Ein Engel hat sie
abgeholt und führt sie dorthin.
Wieso hat er sie abgeholt?
Der liebe Gott hat gesagt, er
soll sie abholen.
Er schaute seinen Bruder an.
Alles war richtig, was Johannes sagte, und deshalb sah er seine Großmutter auf
dem Weg in den Himmel. Doch war er ganz sicher, daß sie Angst hatte und sich
verloren fühlte auf der schwankenden
Leiter, im haltlosen Dunkel dort zwischen Sternen und sicherer Erde.
Sie ist doch jetzt auch schon
ein Engel, sagte Johannes beruhigend, als er ihm von seinen Befürchtungen
erzählte. Engel haben keine Angst und fürchten sich auch nicht vor der
Himmelsleiter.
Er hatte sie als als
zierliche, stille, streng gescheitelte weißhaarige Frau vor Augen, und jetzt
also mußte er seine Vorstellungen von ihr ändern, denn Engel waren ernst, groß
und furchteinflößend, und der Umstand, daß seine Großmutter nun jemand ganz
anderes sein sollte, war ihm unheimlich. Er spürte, daß sie ihm entglitt, und
um die alte Vertrautheit wieder herzustellen, rief er laut nach ihr.
Sie ist schon zu weit weg,
sagte Johannes.
Aber sie kommt doch wieder?
Nein.
Warum nicht ?
Ich weiß es nicht. Vielleicht
kommt sie ja wieder. Vielleicht ist sie
auch noch hier.
Wo, hier ?
Im Zimmer oder im Haus.
Meinst Du, daß sie uns sieht
? Sie sieht, was wir gerade machen?
Wenn sie hier ist, sieht sie
uns.
Er schaute sich um. Niemand
hatte ihm vom Tod erzählt, er wußte nicht, was das war, sie wurden nicht zur
Großmutter geführt, die Erwachsenen waren beschäftigt, Johannes hatte auch nur
gehört, daß die Gestorbenen die
Himmelsleiter hinaufsteigen, und doch drängten sie auf dem Fensterbänkchen
aneinander, und er bildete sich ein, daß da jemand im Zimmer war, den er nicht sehen konnte.
Die Nachtschwester erschien
auf dem Flur und ging vorbei. Er öffnete die Augen, schaute sie an, sie schüttelte stumm den Kopf und
verschwand. Er lehnte sich in den Sessel zurück.
Die Himmelsleiter. Das ferne
Symbol einer fernen Vergangenheit,
längst schon entkleidet der ehrwürdigen Aufgabe, das Nichts im All zu
füllen mit beruhigend-begrenzenden Vorstellungen, mit Bildern von
lichtbeschienenen Brücken und schimmernden Sprossen, die Halt gaben in trostloser
Finsternis, ausgestattet mit den Verheißungen eines Zieles in der unendlichen
Tiefe. Es war nicht allein nützlich, sondern auch schön. Es tröstete, und wenn
es nur sein Kinderherz war, das getröstet wurde, denn wenn er neben dem
schlafenden Johannes lag und aus dem Fenster zu den Sternen aufschaute, dann
wurde aus dem Oben plötzlich ein Unten, er war im Bodenlosen, er sah in einen
unendlichen Abgrund, er hing unter dem Bett über dem Nichts, und er mußte sich schnell aufsetzen, um das
aufsteigende Grauen und das Schwindelgefühl zu bannen.
Der Tod seiner Großmutter war
ein unerhörtes Ereignis mit unabsehbaren Folgen, denn seine Sphäre war nun
zerbrochen, einfach durch den Umstand, daß sie jemand verließ, um in eine andere zu gelangen. Die Hülle war
versehrt, ihre Einmaligkeit widerlegt – seine Sphäre, die so perfekt für ihn
gemacht und seit Ewigkeiten so unverändert und intakt schien, daß sich ihm
Fragen nach ihren Grenzen oder gar nach einem anderen Raum dahinter gar nicht gestellt hatten. Er hatte
nichts ausgeschlossen, denn diese
Ausschließlichkeit hätte ein Draußen vorausgesetzt. Er wußte gar nicht daß
seine Sphäre Grenzen besaß. Diese Sphäre – das war das Gewohnte, das sich am
nächsten Tag wieder einfand. Dazu gehörten seine Eltern, seine Geschwister, seine Großmütter und die
Hufschmiede, in der sie alle Unterkunft gefunden hatten. Der eigentliche Zweck
dieser Sphäre bestand darin, stets gleichbleibend zu seiner Zufriedenheit für
ihn dazusein und immer aufs Neue zu erscheinen, um sein Vertrauen in die Welt
zu bestätigen und ihn nicht etwa durch die abrupte Änderung der Umstände, durch
Verweigerung oder gar durch plötzliches Fernbleiben zu beunruhigen. In dieser
anspruchsvoll-selbstgenügsamen Zufriedenheit – selbstgenügsam, weil es keinen
Unterschied gab zwischen ihm und seiner Familie, weil die Familie ein Teil
seiner selbst war, nicht zu trennen und nicht zu unterscheiden von ihm, wobei
es ganz unerheblich war, daß sie sich außerhalb seines Körpers und zuweilen
sogar außerhalb seines Blickfeldes befand – in dieser Zufriedenheit nun wurde er
unumkehrbar auf die Tatsache hingewiesen, daß es weitere Räume gab, und diese
unausweichliche Kenntnisnahme, dieser unübersehbare Hinweis auf Anderes, Weiteres, Fremdes,
Verheißungsvolles, Furchteinflößendes bedeutete das unvermutete, ja
unerwünschte Ende jener glücklichen Begrenztheit, die aus guten Gründen nicht
fragte. Wenn man so wollte, wurde er aus dem Paradies vertrieben, weil er Zeuge
war, wie seine Großmutter einem anderen zustrebte. Alle vertrauten Dinge
erhielten in diesem Licht neue Eigenschaften, das Verborgene wurde ins Freie
gestellt, das Einmalige alltäglich, das Heimliche ungemütlich, und so bekam
auch das Zimmer im Dach der alten Dorfschmiede eine neue Geographie.
Das
Zimmer war der Ort, an dem er ins Bett gesteckt, zugedeckt und geküßt worden
war, in dem er täglich das Versprechen auf
Erwachen erhielt und solchermaßen beruhigt in den Schlaf glitt, eins mit
sich, mit den Geschwistern und der Dunkelheit. Doch nun entdeckte er, daß das
Zimmerchen ins Verlassene gestellt war, einziger Raum am Ende eines langen
dunklen Dachbodens, erreichbar von ebener Erde aus nur über eine Leiter von
außen, durch eine Dachluke am entgegengesetzten Ende des Hauses. Oben
angelangt, sprang man von Balken zu Balken, wobei man keinesfalls auf die
Spanplatten treten durfte, die unter die Balken genagelt waren wenn man nicht durch diese schwache Decke in
die darunter liegenden Zimmer der Erwachsenen stürzen wollte. Der Dachboden lag
im Halbdunkel, eine Reihe von Dachpfannen war zerbrochen oder fehlte ganz.
Manchmal schaute der Mond durch die Lücken und leuchtete ihnen, manchmal waren
die Balken vereist und schlüpfrig, und manchmal, wenn sie glücklich ihr Ziel
erreicht hatten, war ihnen wie verirrten Reisenden zumute, die noch rechtzeitig
vor der Flut die rettende Insel betreten und von dort mit Schaudern das tobende
Meer betrachten. Von außen versprach das Zimmer Geborgenheit, doch wenn er
drinnen des Nachts erwachte und auf die Tür schaute, so lauerte dahinter der
brüchige Dachboden, der es ihm
unmöglich machte, das Zimmer zu verlassen oder auch nur die Tür zu öffnen, denn
er fürchtete den dunklen Abgrund und die unbestimmbaren Wesen, die sie des
Nachts bewohnten und die umso furchterregender waren, je unbestimmter seine
Vorstellung von ihnen war. So lag er stundenlang starr im Bett, unfähig, sich
zu bewegen, schweißnaß vor Anstrengung, nichts zu überhören, alle Geräusche zu
deuten und keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, die Schweißtropfen liefen
ihm unter dem Schlafanzug den Körper hinab und sammelten sich in der Kuhle der
Matratze, und er starrte in das Dunkel mit weit aufgerissenen Augen, das Dunkel
verdichtete sich zu schwarzen Schlieren, die sich bewegten und wanderten und
sich im nächsten Augenblick vor seinem Bett
zu hochaufragenden Gestalten formten, und erlösend war das leise Summen
in weiter Ferne, das über Minuten hin in der großen dunklen Stille anschwoll
zum Motorengeräusch eines nächtlichen Autos oder Mopeds, denn es verhieß für einige Sekunden das Licht eines
Scheinwerfers, das die Schatten der Möbel wandern ließ und in grotesker Weise
vergrößert an die Wand warf, aber auch, bevor alles wieder in tiefer Dunkelheit
versank, evident machte, daß niemand
reglos vor seinem Bett stand.
Diese langen ungewissen
Nächte waren ihm im Gedächtnis geblieben, von ihnen rührte seine Abneigung
gegen geschlossene Türen und Fenster, gegen das Unbeleuchtete, Ungesagte,
Ungeklärte, dem Blick Entzogene, gegen das im Verborgenen Lauernde, das
Lichtlose, ja gegen alle Arten von Tabus, von daher rührte seine wilde Lust, sich
dem zu stellen, es zu attackieren, um ihm das Geheimnisvolle und Wirksame des
nie Gesehenen und doch Vorgestellten und Gedachten und darum Existenten zu
nehmen.
Getröstet war er in diesem
Zimmer am Rande des dunklen Abgrundes, wenn sie gemeinsam dort schliefen, Greta
auf einem amerikanischen Feldbett, Johannes und er in zwei alten Lazarettbetten
mit weißgestrichenem Eisenrohrgestell.
Gute Nacht, Johannes, sagte
Greta ins Dunkel.
Gute Nacht, Greta.
Gute Nacht, Simon, sagte sie.
Gute Nacht, Greta.
Gute Nacht, Simon, sagte
Johannes.
Gute Nacht, Johannes, sagte
er und begann das Ganze von vorn, denn niemand von ihnen wollte den letzten
Gruß sagen und keine Antwort mehr darauf erhalten, und das ging eine Weile so
hin und her, bis sie sich, nicht unzufrieden mit dem bisherigen Grußverlauf,
darauf verständigten, den Gutenachtwunsch gemeinsam zu sprechen. Also zählte
eines von ihnen laut bis drei,
Gu-te-Nacht-zu-sam-men, und dann trat für eine Weile Ruhe ein, selbst wenn es
zuweilen notwendig war, den Chor zu wiederholen, denn sie waren genau und mit
einem unsauber gesprochenen Gruß nicht zufrieden. Es trat also für eine Weile
Stille ein, und er lag still und spürte die Wachheit der anderen und hörte
Johannes sagen:
Greta?
Ja?
Schläfst Du schon?
Ja.
Warum antwortest Du dann?
Weil Du mich wieder wach
gemacht hast.
Wenn Du schon wach bist,
kannst Du uns doch noch eine Geschichte vorlesen.
Oh nein, nicht schon wieder.
Ich bin müde.
Du kriegst auch einen
Storck-Riesen.
Storck-Riesen waren
wundervolle Karamel-Bonbons, die es eingewickelt und einzeln zu kaufen gab. Es
gab auch solche für einen Pfennig, aber die waren klein, so dünn, daß es sich
nicht lohnte, davon abzubeißen. Da die Geschwister ihren Hunger nach Süßem
meist mit Zucker auf Margarinebrot oder Rübensirup stillten, war das Angebot
für Greta verlockend, vor allem, wenn man bedachte, daß sie nach Kriegsende mit
spindeldürren Armen und Beinen auf dem Misthaufen herumgeklettert war und sich
dort halbverfaultes Obst und abgenagte Apfelreste gesucht hatte. Sie war sehr
empfänglich für alles Eßbare, und ihr Heißhunger war so groß, daß sie ihren
Geschwistern das knappe Obst wegaß, wenn Thea es nicht mit kleine
Zettelchen als Eigentum der anderen
markiert hätte.
Das Licht wurde also wieder
angemacht, und sie begann irgendeines der Grimmschen Märchen zu lesen, die ihm
durch fortwährende Wiederholungen umso mehr ans Herz wuchsen, und währenddessen
näherte sich ihm, begleitet vom beruhigend-stetigen Rauschen des Mühlenwehres,
fast unmerklich, in leise an und abschwellendem Summen, das sich süß und wohlig
im Kopf und dann im ganzen Körpe ausbreitete, jener kindliche Schlaf, der auf
die gänzliche Abwesenheit ernstlicher und großer Sorgen, dafür aber auf
unverbrüchliches Vertrauen in die Welt hinweist und den er deshalb so gern in
seinen Erinnerungen bewahrte, weil er die Schrecken des Zimmerchens am Rande
des dunklen Dachbodens vergessen machte und weil er dem Zimmerchen, das am
Rande des finsteren und bodenlosen Dachgeschosses balancierte, manchmal seinen
Schrecken nahm.
Nach dem Tod seiner
Großmutter bevölkerte sich die Welt mit wunderlichen und grotesken Gestalten.
Die Metamorphose des Vater in der Zuckerfabrik hoch oben in einer winzigen
Maschine, die an einem Schienengerüst hängend wie eine Schwebebahn, kleine Wagen
hin-und herzog, die aus großer Höhe ausgeleert wurden. Es war ihm ein Rätsel,
wie sein Vater zu solcher Winzigkeit schrumpfen konnte und in diese kleine
Maschine passte, unzugänglich und unerreichbar wie seine Großmutter auf ihrem
Weg zum Himmelstor. Ebenso wie in jener Sterbenacht rief er nach oben und
verlangte Auskunft, warum sein Vater so klein werden konnte und wie er in die
Maschine kam, und Johannes brauchte eine Weile, um ihn zu beruhigen und ihm
seinen Seelenfrieden wiederzugeben, doch das funktionierte nur, weil er
beschloß, daß sein Vater für die Zeit der Arbeit ein anderes Wesen war, das
sich nach Ende der Schicht wieder in den vertrauten Alwin, seinen starken Alwin
zurückverwandelte. Nicht so leicht beruhigen ließ er sich, als im Jahr darauf ein
großes barbarisches Kürbisgesicht im Giebelfenster des Nachbarhauses
auftauchte, ein Wesen mit wilder Perücke aus Stoffstreifen, das, sich hin-und
herbewegend mit bedrohlicher Langsamkeit, als suche es den Hof ab nach etwas,
abrupt den Kopf wendete, als habe es plötzlich etwas entdeckt, eine Beute, ein
Opfer, wie etwa eine Katze vor sich eine Maus entdeckt, und Beklemmung legte
sich über sein Herz bei diesem archaischen Anblick, denn es war das monströse
Gesicht eines Riesen von haushoher
Gestalt, der sich, vom Keller bis zum Dachboden reichend, hinter der Fassade
des Hauses verbarg, und immer, wenn er später an hohen Speicherhäusern oder
Silos vorbeifuhr mit kleinen Fenstern hoch oben unter dem Dach, mußte er den
Gedanken verscheuchen, daß es die Behausungen von Riesen waren, Riesen, die
hinter dem ragenden Mauerwerk standen.
Er befragte seine Geschwister, seine Eltern und seine Großmutter, die
Nachbarn und Spielkameraden, aber niemand konnte sich an das Kürbisgesicht
erinnern, geschweige denn an den Riesen, den er gesehen hatte. Andere Wesen,
die nun auftauchten, verbanden sich schon mit größeren Räumen, anderen Orten
und Zeiten, es waren solche, die er nicht mit eigenen Augen gesehen hatte wie
die Großmutter auf dem Weg zum Mond, den winzigen Vater in der Bahn oder den
Riesen im Nachbarhaus. Greta erzählte eines Abends nach der geschwisterlichen
Gutenachtrunde im kleinen Dachzimmerchen, daß der Fahrer der Dampfwalze, der
seit Tagen am neuen Straßenbelag im Dorf arbeitete, in Wirklichkeit ein Teufel
sei und aus der Hölle käme. Es waren die Jahre, in denen Dampfwalzen überall im
Einsatz waren, die Zeit, in denen das Kopfsteinpflaster nach dem Krieg
unwiderruflich und unaufhaltsam unter glatten Teerdecken verschwand.
Das glaube ich nicht, sagte
Johannes. Gestern hat Papa noch mit ihm gesprochen.
Doch, doch, sagte Greta.
Linchen Willers hat erzählt, wir sollten nicht zu nahe an ihn herankommen,
sonst nimmt er uns mit runter.
Linchen Willers erzählt uns
immer solche Geschichten. Sie ist doch selber eine...Eine Hexe, wollte Johannes
sagen, doch er verschluckte es, denn vor einigen Wochen hatte er dieser
Nachbarin, einem sanftmütigen Wesen mit einem Auswuchs am Rücken, ‚bucklige
Hexe’ nachgerufen. Thea war außer sich und Alwin bestand darauf, daß Johannes
abends zu den Nachbarn ging und sich entschuldigte. Das war schlimmer als eine
Tracht Prügel, sagte Johannes und wollte danach nicht so recht erzählen, wie es
dort weitergegangen war.
Wir sollen auf seine Füße
achten, fuhr Greta fort. Der rechte ist ein Pferdehuf, und daran wachsen lange
zottelige Haare.
Nun schwieg auch Johannes,
und sie lagen noch eine Weile nachdenklich wach, ohne etwas zu sagen.
In den nächsten Tagen liefen
sie hinter der Dampfwalze her. Es war eine dieser kohlebetriebenen Maschinen
aus der Vorkriegszeit, bei denen der Fahrer auf einer flachen Plattform stand,
die nach hinten hin offen war, sodaß sie Hosen und Stiefel des Mannes genau
inspizieren konnten. Die rötlichen Haarbüschel, die aus dem rechten Hosenbein
herausschauen sollten, waren nicht zu sehen, auch der Stiefel schien für einen
Pferdehuf nicht geeignet. Aber das
verschaffte ihnen keine Gewissheit, es milderte nicht ihre Unruhe und ihren
Zweifel, und sie sahen den Fahrer am nächsten Sonntag in der Kirche und spähten
von ihren Stühlen aus mit allerlei Verrenkungen nach seinem Fuß und suchten
nach einem Beweis für die beunruhigende Aussicht, daß der Teufel sich
möglicherweise in ihrer allernächsten Nähe aufhielt.
Die Nachtschwester kam zu
ihm. Es war gegen drei Uhr morgens.
„Sein Zustand normalisiert
sich. Der Arzt denkt, daß Sie ihn heute früh sehen können, aber nur kurz.
„
„Es ist recht, ich danke
Ihnen.“
Sie blieb vor ihm stehen und
schaute ihn forschend an.
„Ja?“
„Als er erwachte, hat er
dringend nach Ihnen verlangt. Das haben wir in solchen Fällen nicht oft, wissen
Sie.“
„Nein, ich weiß es nicht. Ich
habe in solchen Dingen keine Erfahrung. Ich hoffe aber, daß ich zu einem
Weiterkommen beitragen kann."
Sie lächelte trotz seiner
Antwort und schaute ihn forschend an.
„Sie sind ihm wohl sehr
wichtig?“
„Schwester, ich kann Ihnen
diese Frage nicht beantworten“, sagte er betont höflich, um seinen Unwillen zu
verbergen. „Nachher weiß ich möglicherweise mehr.“
Das Schaufenster
im elterlichen Laden und etwa so groß wie eine Tischtennisplatte und damit das
größte Fenster im Dorf. Im Laden duftete es aus Gläsern, Tüten, Schubläden,
Kästen, Tonnen, Säcken und Körben. Es war alles da, was gebraucht wurde, aber
die Leute beschränkten sich auf die Grundnahrungsmittel, denn die meisten waren
nicht reich, das konnte man nur von den sechs Bauern des Dorfes sagen – sie
hatten bis zu 100 Hektar besten Ackerboden, der Bürgermeister hatte 1948 eine
wunderbare Scheune hingestellt, ein Bild von einer Scheune, groß, massiv, roter
Backstein, am Giebel die Zahl 1948, in dem Jahr gab es noch Lebensmittelkarten
für die Bevölkerung. Es war das Jahr, in dem er geboren wurde,
das Jahr, in dem Thea nach seiner Geburt über Wochen auf Leben und Tod lag, so
schwach, daß Alwin sie Tag für Tag zum
Klohäuschen tragen mußte, Alwin, der starke Alwin, der bei Kriegsende selbst
vom Tode auferstanden war, nachdem ihn die Russen als Sterbenden aus der
Gefangenschaft entlassen hatte, er wog weniger als 40 kg damals, die Russen
hatten ihre Verwundeten auch nicht anders verpflegt als ihn, es war das Jahr,
in dem der starke Alwin mit einem Opel-Blitz-Dreirad, bei dem man zum Bremsen
einen Fuß auf die Straße setzen mußte oder in einen Feldweg hineinfahren,
hungrig von Hof zu Hof zog, um ein wenig Milch einzutauschen für seine Familie,
unermüdlich und einfallsreich, aber einmal stand er vor einem Bauern, auf
dessen Tisch sich Wurst und Schinken türmten, Alwin davor, schwindelig vor
Hunger und Gier, der Bauer legte frisches Mett auf ein Butterbrot, zwei Daumen
dick, und Alwin legte sich schon die Worte zurecht, mit denen er dem Bauern
danken würde und öffnete den Mund wie ein Säugling in Erwartung der
Mutterbrust, der Bauer schnitt das Brot in kleine Häppchen, danke, das wäre
doch nicht nötig gewesen, er könnte es auch so essen, der Bauer nahm das
Brettchen, bückte sich unter den Tisch und
stellte es vor seinen kleinen Rauhhaardackel hin, der sich gierig
darüber hermachte. Jedenfalls hatte Alwin in dieser Zeit die alte Schmiede gefunden und gemietet, in
einem der niedersächsischen Dörfer, von denen Thea später sagte, daß es sie wie
ein Schlag getroffen hätte, dort nach der Flucht aus Berlin zu stranden, wie sie sagte, wo sie doch vor
dem Krieg von der elterlichen Wohnung aus den Friedrichstadtpalast in 3 Minuten
erreichen konnte, sie, die eine Großstadt im strahlenden Glanz ihrer Lichter
gewohnt war, hier in einem Kaff, in dem es nur eine kleine Kapelle gab und eine
trübe Dorfkneipe, kopfsteingepflasterte Straßen ohne Gehweg und Beleuchtung,
und im Herbst tagelang dichten Nebel. Aber Alwin hatte die Schmiede in
Windeseile ausgebaut, zwei Zimmer unten, eines oben, eben das Zimmerchen im
Ungewissen, dazu den Ladenraum, weiß der Himmel, wie er als Fremder ohne Geld an das Haus und an den Warenkredit für
den Laden gekommen war, aber er war ein vertrauenerweckender Mann und charmant
dazu, weißer Kittel, Bleistift hinter dem Ohr,
plaudernd und scherzend mit der Kundschaft, die er schnell mit Namen
kannte und die zwischen Mißtrauen und Faszination angesichts dieses Kaufmanns
schwankte. Draußen, an der Fassade, war eine glatte blaue Schreibfläche für
Sonderangebote in den Putz eingearbeitet. Er hörte von drinnen seinen Vater
sprechen, während er große Schiffe und Berge malte mit bunten Kreiden,
stundenlang, still versunken, auf diese Art verzauberte er sich selbst und
verschwand in seinen Bildern. Manchmal ein Ruf seines Vaters, er eilte in den
Laden, Alwin stellte ihn mit Schwung auf den Tresen, legte ihm seine Hand um
die Hüfte, damit er nicht herunterfiel, und dann sang er zur Unterhaltung der
umstehenden Kundschaft auf französisch das Lied vom Bruder Jakob. Nach dem Lied
fragte ihn Alwin, auch das gehörte zur Vorstellung, wie denn das große Schiff
hieß, das damals im Atlantik auf einen Eisberg gefahren und gesunken sei, und
natürlich, er sprach das Wort auch ganz richtig aus. Dann war die Vorstellung
beendet, der Vater war stolz, daß sein Sohn alles gewußt hatte, das Bübchen
würde es weit bringen, auch er war
stolz, denn sein Vater war zufrieden mit ihm. Die Kundschaft, so erzählte
später Thea, die das Ganze für unklug hielt, lächelte süßsäuerlich und sagte
unbestimmt ‚Na denn’.
Eines Tages
betrat ein Junge, so alt wie er selbst, den Laden, eine Einkaufstasche aus
rotbraunem scharfkantig-zerschlissenem Kunstleder in der einen, eine Milchkanne
aus Blech und eine Maggiflasche in der anderen Hand. Der Junge war gekleidet
wie die meisten Buben: Kurze speckige Lederhose mit Hosenträgern und brüllendem
Hirsch aus Elfenbein auf dem Brustschild, kariertes Hemd, Sandalen ohne Socken.
Manchmal hatte er ihn schon aus der Ferne gesehen, und er gefiel ihm.
Ein Brot von
gestern, Maggi und 1 Liter Milch, sagte der Junge und kam hinter den Tresen, um
die Eiserne Kuh in Betrieb zu sehen. Brot vom Vortag war aus Geldmangel
allgemein üblich – es wurde nicht so schnell gegessen wie frisches Brot. Die
Eiserne Kuh war ein Milchbehälter mit einem Hebel, der jedesmal, wenn er
hin-oder hergezogen wurde, einen Viertelliter Milch in die Kanne zischen ließ,
bei jedem Hin oder Her klang das Zischen in der Kanne etwas höher. Es war so
eine Art Tonleiter, die man hören konnte,
und das Gerät war unbestritten eine Attraktion für Kinder. Es war der
volle satte Klang, das leichte, dem sanften melodischen und doch scharfen
Geräusch beigefügte Brodeln und Gurgeln, der sie betörte, und er hätte am
liebsten eine Riesenmaschine gehabt, eine Art Milchstrahlorgel, die diesen Ton
laut und dröhnend und auf ewig hätte erzeugen können. Als alles fertig war, zog
Alwin einen Stapel Oktavhefte aus der Schublade, suchte eines heraus, trug den
Einkauf ein, nickte dem Jungen zu, und der verschwand. Er schaute Alwin an,
Alwin nickte ihm aufmunternd zu, er eilte hinterher und sah die kleine Gestalt
um die Ecke verschwinden, etwas humpelnd, den Oberkörper schräg zur Seite
geneigt, denn die Tasche war schwer. Er holte ihn ein. Er bot er ihm an, die
Kanne zu tragen und bevor Edi noch ablehnen konnte, hatte er sie ihm schon
abgenommen, ihn ritt der Teufel, er schwang die Kanne hin und her, immer
weiter, bis der Schwung ihm erlaubte, einmal ganz herum zu schwenken, der Junge
rief „Nicht!“, aber er hörte nicht, das ging ja prima, nichts lief heraus, er
war stolz, er hatte bisher nur mit Wasser geübt, beinahe hätte er es geschafft,
aber beim Abbremsen die bekannt-heikle Phase, und, natürlich, das Malheur. Der
Deckel fiel herab, die Kanne war halb leer, das Hemd nass. Er lief zurück mit
der Kanne, der Junge hinterher, es sah aus, als wollte er weinen. Alwin sagte
nichts und füllte Milch nach, Edi bekam einen Lutscher zum Trost, einen jener
Zuckerkreisel, mit denen im Mund die Kinder aussahen wie geknebelt, und er
selbst bekam Malverbot und Hausarrest. Das schmerzte ihn sehr, denn das Wetter
war schön, und doch schmerzte ihn noch mehr die Ungewissheit, ob er nicht
gleich zu Anfang seiner ersten Bekanntschaft alles verdorben hatte. Aber am
nächsten Tag standen zwei Buben an der Haustür, einer davon war Edi mit der
Milchkanne, und sie fragten nach ihm, sein Herz klopfte vor Freude, man hatte
ein Einsehen und ließ ihn zu den Buben.
Jeden Morgen sprang er neu heraus aus der schützenden Hülle
seines Elternhauses, wie ein junges Kälbchen aus dem Stall, mit einem fast
wollüstigen Gefühl unbestimmter Vorfreude im Magen. Jeden Morgen fanden sich
die beiden anderen ein, wie von selbst, ohne Verabredung, ohne Worte. Sie drangen zu dritt ein in die dichten
Kornfelder, deren Halme ihnen über den Kopf wuchsen, sie pirschten sich
vorsichtig in die Tiefe des Feldes, beklommen wurde ihnen zumute, und sie
rannten voller Panik wieder ins Freie, wenn
heftiger Wind die Halme rauschen ließ, denn sie wähnten, hinter ihnen
wüchse die schreckliche Kornmuhme empor, groß wie ein Mähdrescher, mit einem
dunkel klaffenden Maul und senkte sich
mit ihrem schwarzen Mantel, so groß, daß er den Himmel verdunkelte, über sie,
die angstbebenden kleinen Jungen, um sie zu bedecken, zu ersticken, und sie
wären, wenn sich die Muhme wieder erhöbe, verschwunden, nicht mehr da, für immer im Kornfeld
eingeschlossen, ohne Blick auf Berge, Bäume, Fluß und Dorf, nur die Halme wie
Gitterstäbe dicht an dicht vor Augen, das dichtstehende Korn als ewigen
Horizont vor Augen, ohne Hoffnung, jemals wieder das Freie zu gewinnen.
Sie schlichen sich in die Scheunen der Höfe, turmhohe Kathedralen
der Ernte, selbst an strahlenden
Sommertagen in kühler Stille, in dämmerigem Halbdunkel, durchzogen von den feinen Strahlen der Sonne, die aus
winzigen Ritzen hoch oben im Dach drangen, zum Greifen sichtbar durch Myriaden
von Staubteilchen, die aus Kornsäcken und Strohballen aufstiegen und feierlich
ihre stillen unentwegten Tänze umeinander tanzten, sodaß die frechen Eindringlinge in diesem goldenen
Halbdunkel unwillkürlich in ein Flüstern verfielen, denn sie kam das Gefühl an,
als sei die Scheune ein Lebewesen, mehr noch, als sei es das Innere einer
steinernen alten ehrfurchtgebietenden Riesenmutter, die jenseits von Zeit und
Gegenwart das goldene Halbdunkel hütete.
Nach sonnendurchglühten
Stunden, in denen ihre bloßen Fußsohlen das Gefühl der heißen glatten
Pflastersteine der Straße, das leichte kühle Stechen des Strohs in der Scheune,
die kalten Fliesen des Ladens und seiner rauhen scharfkantigen Bodenfugen in sich aufgesogen hatten, schließlich das
vorsichtige Hinabsteigen in das Flüßchen, das Eintauchen in das tiefkühle Wasser mit seinem
unwiederstehlichen metallisch-dunkelgrünen Duft. Die erste erschauernde
Berührung der erhitzten Füße mit der seidenen Weichheit und Nachgiebigkeit des
Wassers, mit dem schlängelnden Flußtang, der kitzelnd die Beine umstreichelte,
mit den schlüpfrigen bewachsenen Kieseln oder dem zuverlässig-festen,
übersichtlich hellen Sand auf dem Grund des Flüßchens, das vorsichtige
Hineinwaten ins Tiefe, all dies war so lustvoll, daß sie, um den Genuß zu
steigern, absichtlich länger in der staubigen Hitze des Feldes oder in der
kratzig-schneidenden Härte der Wiesen ausharrten, bis sie plötzlich, wie auf
ein geheimes Kommando mit klopfendem Herzen und vibrierend vor mühsam unterdrückter Erwartung zum Wasser eilten.
Nie hatten sie den Drang, sich gegenseitig zu bespritzen, sie waren einfach zu
sehr damit beschäftigt, alles zu erkunden und auszuprobieren. Immer hatte er
den unwiederstehlichen Wunsch, sich niederzubeugen und das Wasser mit den
Lippen zu berühren, das ganze Gesicht hineinzuschmiegen und schließlich seinen
kurzgeschorenen Haarschopf hineinzutauchen. War diese Begrüßungsgeste
vollzogen, watete er langsam flußabwärts, magisch angezogen von dem dunklen
Maul des unterirdischen Mühlenkanals, dessen Wasser sich in das Flüßchen
ergossen und verharrte vor dem Eingang, zögernd, ob er weitergehen sollte, und
an einem Tage wagte er sich hinein, hinter sich hörte er
gleichmäßig-rhythmisches Rauschen, die Schritte seiner Freunde. An diesem Tag
tasteten sie sich in plötzlicher
Entschlossenheit, überrascht von ihrem eigenen Mut, Schritt für Schritt vor in
die zunehmende Dunkelheit, bis zu den Lederhosen durchs schwarze Wasser
gleitend, erschauernd mit den nackten Füßen glitschige Steine, ungewiss-weiche,
wollig-nasse Bündel und harte scharfkantige Dosen, Stifte und Rohre ertastend,
den Kopf voller Trug- und Schreckensbilder, und wenn eine Bisamratte platschend
das Weite suchte und die Geräusche im Tunnel wie durch Zauberei verzerrt,
gebeugt und mit ganz fremdartigen Tönen versehen an ihr Ohr drang, standen
ihnen die Haare zu Berge.
Später wanderten sie am Rand
des Flüßchens hinaus aus dem Dorf bis dorthin, wo das Wasser still floß, weil
es mehr als mannstief war, wo
Korbweiden wuchsen am Rande des
steilen überhängenden Ufers, das unterspült war und durchzogen von
Wurzeln, ein ideales Versteck für Bisamratten und Otter. Dort wohnte der
Wassermann. Sie gingen ganz still vorbei, jeder hatte seine eigenen
Vorstellungen von diesem Mann, der unschuldige Opfer hinunterzog zu sich. Den
Blick beständig auf das Ufer gerichtet, redeten sie leise über das unsichtbare,
aber fühlbar anwesende Geschöpf und stritten darüber, ob er Füße hatte oder
Flossen, Schuppen oder einen Umhang aus Tang, ob er schnell laufen konnte oder
nicht.
Vor dem Wassermann hatten
sie Respekt, aber nicht richtiggehend Angst. Wenn sie nicht in sein Wohngebiet
eindrangen, konnte ihnen wenig passieren, denn der Wassermann schien langsam, sie hingegen konnten blitzschnell
davonrennen. Etwas anders war es mit der Kornmuhme, denn sie war eine Frau, und
daher mußte ihr Zorn von großer Bedeutung sein, unvorhersehbar, schmerzhaft,
bedeutend und langanhaltend, das hatte Simon schon gelernt. Auch war ihr
Herrschaftsgebiet unübersichtlich, und es war nicht auszuschließen, daß sie
unvermittelt aus dem Kornfeld emporwuchsund ihre Grenze überschritt, selbst
wenn die Buben nur mit ihren Rollern auf der Straße zwischen den Kornfeld
entlangfuhren.
Sie wanderten zu den Weiden in der Flußaue, um zu rauchen. Sie
hatten einen eigenen Baum mit komfortablen Astgabeln einige Meter über dem
Boden. Dort saßen sie für gewöhnlich wie die Vögel im Geäst, unterhielten sich
und schnitzten mit kleinen billigen Messern Flöten aus dem Holz der Korbweide.
Beim ersten Mal, als er die geklauten Zigaretten und Streichhölzer aus der
Tasche zog, klopfte sein Herz, denn er fühlte sich von allen Seiten beobachtet,
aus dem nahen Dorf, vom Bauern, der auf dem Feld das Stroh zusammenband. Und er
fühlte sich allein, denn er war im Begriff, die Verbote seiner Eltern zu
mißachten, und der Schlag, der ihn traf, als er wie ein Erwachsener den Qualm
inhalierte, schien ihm nur gerecht als Strafe
für seinen Ungehorsam, und später aß er Sauerampfer, um den
verräterischen Tabakgeruch zu verdecken, aber Thea hatte eine feine Nase und
brachte alles zutage.
Sie streiften durch den Ort
und aßen wie die kleinen Tiere der Gärten das von der Wiese, vom Feld oder vom
Baum, was die Jahreszeit hergab:
Löwenzahn, Kirschen, Äpfel, Birnen, Stachelbeeren, Pflaumen, Kohlblätter, Radieschen,
Kastanien, Erbsen, Bohnen, Kohlrabi, Kartoffeln, Zuckerrüben, Kürbis, und
vermutlich blieb nichts verborgen in dem kleinen Dorf, nicht das Rauchen und
nicht das Klauen, aber niemand hielt dies einer Bemerkung für wert, solange
nicht ein ganzer Baum oder Strauch geplündert wurde. Er teilte alles mit ihnen,
und sie mit ihm, er trug den gleichen Seitenscheitel und die gleichen
Lederhosen mit dem steifen abstehenden Hosenboden, der ihrem Gang etwas
Entenartiges gab und deren Leder so steif war, daß sie manchmal Mühe hatten,
sie rechtzeitig aufzuknöpfen, wenn sie pinkeln mußten, er trug im Herbst die
gleichen Strümpfe wie sie, diese
schmählichen Strümpfe, die mit Strapsen und Leibchen unter der Lederhose
befestigt waren, durch all dies war er unzertrennlich mit ihnen verbunden und
sie mit ihm, sodaß die Erwachsenen, wenn einer fehlte, nach dem dritten
fragten, ja sogar den ersten Kuß teilten sie versuchshalber an einem nebligen
Frühherbstabend miteinander, woraufhin sie laut kreischend auseinanderstoben und
sich erst am nächsten Tag wieder begegnen mochten.
Ihnen fehlte nichts, und dieser Zustand hatte
weder Anfang noch Ende.
Die
Nachtschwester war zu ihm getreten, fast lautlos, er hatte nur das
Rauschen ihres Kittels gehört, und fragte: „Möchten Sie einen Tee?“
„Ja, gern. Haben
Sie etwas Besonderes?“
„Eigentlich nur
Beutel. Aber für mich privat habe ich Earl Grey.“
„Würde ich gern
nehmen, wenn es nicht zu unbescheiden ist. Gegen eine kleine Spende fürs
Stationsschweinchen.“
Sie lächelte, kam
nach fünf Minuten mit Teegeschirr für zwei wieder und setzte sich zu ihm.
„Sie saßen eine
Stunde lang fast bewegungslos im Sessel und haben nur geschaut, aber nicht
geschlafen.“
„Die ganze
Angelegenheit hat in mir viel ausgelöst. Ihr Patient und ich haben gemeinsame
Kindheitserinnerungen. Und es gibt eine Vorgeschichte. Da kommen plötzlich
viele Dinge hoch, an die ich schon lange nicht mehr gedacht habe.“
„Ja“, sagte sie,
„Ihnen ist, verzeihen Sie, etwas
Melancholisches zu eigen.“
„Ja, auch, doch
eher verwundert darüber, wie das alles so zugeht. Und wie ahnungslos und
hilflos man eigentlich ist.“
„Ja“, sagte sie,
während sie aufstand. “Mir geht es ebenso. Dabei bin ich von Menschen umgeben,
die mir immer alles genau erklären können. Wie in den Vorabendserien: Wir haben
alles im Griff. Du schaffst es. Danke, Mom.“
Er war amüsiert.
„Sind Sie aus dem
Osten?“
„So ist es. Daher
auch meine Erfahrungen mit Generalversicherungsklauseln und
Beruhigungsformeln.“
„Seit Tagen liegt
er auf der Intensivstation“, sagte sie etwas unvermittelt.
„Er war nur
einmal kurz bei Bewußtsein und hat ganz beherrscht und deutlich darum gebeten,
Sie zu benachrichtigen. Eigentlich war es mehr eine Anweisung mit Erklärung,
wie Sie zu erreichen seien. Würden Sie mir wohl von der Geschichte erzählen,
wenn Sie mehr wissen?“
„Ich werde daran
denken. Aber ich will Ihnen nichts versprechen. Einverstanden?“
„Ja. In zwei
Stunden beginnt der Tagdienst. Wollen Sie sich noch ein wenig hinlegen?“
„Nein, lieber
nicht. Ich bin wach und möchte die Zeit nutzen. Ich warte die nächsten Stunden
und werde dann sehen, was ich weiter tue.“
„Ich bringe Ihnen
vor dem Dienstwechsel noch ein Frühstück, wenn es recht ist?“
„Gern. Sie sind
sehr freundlich.“
Er lehnte sich in
seinen Sessel zurück und dachte: Äußerst intensive Art. Vielleicht bringt das
ihr Beruf mit sich. Oder ihr Leben. Er sah ihr nach, bis sie in ihrem
Monitorraum verschwunden war und er wieder allein war mit sich, der fahlblauen
Nachtbeleuchtung, dem Gummibaum in der Sitzecke, dem kargen Klinikflur und den
fröhlichen Kinderzeichnungen an der Wand. Er trank seinen Tee und bemerkte, wie
wieder eine unbestimmte Rührung in ihm aufstieg, eine innere Bewegung, die er
schon empfunden hatte, als vollkommen unerwartet der Anruf von Johannes kam, er
möge doch bitte eine Berliner Nummer anrufen, es ginge um Arno. Und plötzlich
war wieder alles präsent und lebendig, und er hatte, obwohl er Arno vor 35
Jahren zuletzt gesehen hatte, Arnos kindlich-rundes Gesicht mit den
unvergleichlich vertrauensvollen und eifrigen runden braunen Augen vor sich.
Arno, der kleinste in ihrer Runde, einige Jahre jünger als sein Bruder Wenzel
und seine Cousins Johannes und Simon, und immer wollte er mitspielen und war
doch noch nicht zu gebrauchen. Sie stellten ihn als Balljungen hinter ihr
kleines Fußballtor und lobten ihn, wenn er glücklich den Ball brachte und ins
Feld zurückwerfen durfte, und einmal schossen sie mit Wenzels Luftgewehr in
Tante Gustes Garten, und der Kleine rannte abrupt los, vor das Gewehr, und der
Schuß ging haarscharf an seinem Kopf vorbei. Die drei größeren standen reglos
und schauten sich an und schworen sich dann, den Erwachsenen nichts zu erzähle.
Und ein paar Tage lang durfte er deswegen mitspielen, und sie waren geduldig
und nachsichtig mit ihm.
Für einen Moment
verschob sich alles, die Vergangenheit wurde wieder Gegenwart, und die
Gegenwart zur Zukunft, er sah sich und Arno als Kinder spielen, und die 35
Jahre lagen wie ein unüberbrückbarer Graben zwischen ihnen beiden, und in
diesem merkwürdiger und seltenen Augenblick der Gleichzeitigkeit, der nicht
länger als ein Wimpernschlag anhielt, war er wieder Kind, er war der kleine Simon, dort im Garten der
Großtante und gleichzeitig hier auf der Intensivstation, und er sah von dort
aus seine und Arnos Zukunft und wusste also als das Kind schon, daß Arno hier
auf den Tod lag und Schlimmes erlebt hatte. Er sah von dort aus, daß seinem
Spielgefährten dieses Schicksal
zugedacht war, dem Kind Arno, das ein Teil des Majors a.D. Arno
Eisenberg war, der hier lag, und er hätte dieses Kind gern bei der Hand genommen und wie im Märchen gesagt: Komm hier
entlang, geh nicht den Weg dort, komm nur mit mir, lieber Arno, bei mir wirst Du es gut haben, aber er hatte
es nicht gesagt, wie auch, er hatte seinen Spielkameraden nicht schützen
können, und das stimmte ihn traurig, und es schoß ihm durch den Kopf, daß es ja
nicht zu spät sein müsste dafür.
Um seine innere
Bewegung zu verbergen, stand er auf und trat ans Fenster. Die Nacht war nicht
mehr ganz so dunkel, die Umrisse der Bäume und der Verlauf der Wege im Park
waren schon zu erahnen.
Die anderen
wurden von den Bauern aufs Pferd gehoben und durften zum Hof reiten. Oder sie
nahmen auf dem Beifahrersitz des Traktors Platz und fuhren davon. Einmal halfen
sie bei einem Bauern, Heu abzuladen. Der Bauer sagte: Um zwölf gibt’s
Erbsensuppe. Er lief wie die anderen heim, um Bescheid zu sagen, voller Stolz,
denn er hatte sich schon lange gewünscht, auch einmal dort dabeizusein, wo
seine Gefährten ein–und ausgingen. Um zwölf standen sie vor der Tür, die alte
Bäurin öffnete ihnen und zeigte mit dem Finger auf ihn: Du gehst mal schön nach
Hause. Seine Freunde schauten ihn nicht an und gingen mit der alten Bauersfrau,
und er blieb allein auf dem Hof zurück und kam erst heim zu seiner Familie, als
die Essenszeit vorüber war und erzählte von der wunderbaren Erbsensuppe, die er
gegessen hatte. Aber Thea strich ihm über den Kopf und fragte, ob er nicht noch
Hunger hätte. Und er wußte nicht so genau, was ihn mehr verwirrte: das Gefühl der
Scham oder das Gefühl der Unerreichbarkeit seiner Gefährten, mit denen er sich
eben noch so verbunden gefühlt hatte, und er grübelte darüber, was denn nun das
Wirkliche sei zwischen ihnen, was eigentlich das Geltende war. Ebenso ging es
ihm, wenn Thea sagte: Kinder, wir fahren nach Berlin, macht Euch fertig, und er
stieg mit Greta und Johannes in den alten DKW, dessen Seitenwände noch aus
Sperrholzplatten bestanden, die durch Buchenleisten zusammengehalten wurden,
und nun hatten sich die Verhätnisse umgekehrt, nun standen die Freunde verloren
am Rande des Geschehens, die Freunde, die so wichtig für ihn waren, sie, die
noch nie eine Autoreise oder überhaupt eine Reise gemacht hatten und die für
ihr Leben gern mitfahren wollten, so wie er für sein Leben gern auf den
Treckern der Bauern mitgefahren wäre. Er winkte verstohlen hinaus bei der
Abfahrt, aber sie winkten nicht zurück und blickten ihn auch nicht an. Er drehte sich um, kniete sich auf die
Rückbank und schaute zurück, während Alwin die Ahornallee entlang Richtung
Zuckerfabrik fuhr. Er glaubte zu wissen, was in ihnen vorging, er hatte ein schlechtes Gewissen, und er
wäre gern wieder ausgestiegen und hätte sich zu ihnen gesellt. Doch wuchs
bereits die freudige Erwartung des Neuen, Unbekannten, es wuchs mit einem
Gefühl, als krabbelten ihm tausend Flöhe im Magen, während er kniend verharrte
und sich der Melancholie des Abschieds hingab und gleichzeitig der Erwartung
des noch Fernen, das in seiner Phantasie schon fix und fertig ausgebildet und
mit Farben und Räumen, Geräuschen und Personen ausgestattet war. Er beobachtete
das Kleinerwerden und Verschwinden der Freunde und überließ sich dann dem
Kleinerwerden und Verschwinden der Dinge und Lebewesen – ein unerschöpflicher
Strom neuer und sogleich zurückbleibender Bilder, Bilder, die abrupt und
unvermittelt im Rückfenster und in seinem Blickfeld aufsprangen, sich für einen
Moment vor ihm entfalteten, um langsam in der Ferne zu verschwinden, und zu
einem Punkt zu schrumpfen, wie die erlöschende Flamme einer Kerze, die
herabgebrannt ist und zum Funken wird, der verglimmt und jäh erstirbt. Es
fesselte ihn weitaus mehr als das, was von vorn auf ihn zukam, denn er sah
Dinge, die er sonst nicht gesehen hätte, etwa das Gesicht eines Menschen, der
gerade überholt wurde oder das Herannahen eines schnellen Fahrzeuges. Er liebte
es, auf das ununterbrochen und endlos ablaufende Band der Straße zu
starren, ein Zustand, in dem es weder
Melancholie noch Vorfreude gab, sondern
nur noch mild-wohltuendeTrance, die ihm die Zeit verkürzte, und aus der er erst
erwachte, wenn sie sich ihrem Ziel näherten und er das Leiserwerden der Gespräche im Auto bemerkte, die Ermahnung
der Eltern, bei den Grenzkontrollen nicht zu lachen und nur das zu beantworten,
was gefragt worden war und keine Bemerkungen zu machen und besonders russische
Soldaten nicht anzustarren. Er hörte das knatternde Dröhnen der Reifen auf dem
Basaltpflaster, er roch die blauen Abgasschwaden der Zweitaktmotoren, die sich
mit dem schwefligen Qualm der Kohlefeuerung und dem allgegenwärtigen Desinfektionsmittel zu einem
Geruch vermischten, der sich für Wochen in Nase, Kleidern und Haaren
festzusetzte, er sah links und rechts der Chausseen die endlose Kette der
Birken, die er so liebte und die ihn traurig machten, er sah die allgegenwärtige
braungraue Farbe der Häuser, er sah die vielen tausend kleinen und größeren
Löcher in den Fassaden, die ihn in ihren Bann zogen und beklommen machten, weil
er ahnte, daß sich damit dunkle Geschichten, ausweglose Situationen und
verzweifelte Leute verbanden. Er konnte darüber nichts ausdrücken, und so blieb
ihm nur ein ahnungsvolles verschrecktes Grübeln, wo die Leute geblieben waren,
die da gekämpft hatten, wie es ihnen ergangen sein mochte, wie sie überhaupt in
diese hoffnungslose Lage kommen waren, ob sie entkommen konnten, oder ob sie
verschleppt worden waren in ein Reich, das ihm umso schrecklicher erschien, je
mehr er in Ermangelung genauerer Schilderungen
die eigene Phantasie in Anspruch nehmen mußte. Verschleppt – das war
eines der Schreckensworte seiner Gedankenwelt, genährt aus den langen
abendlichen Zusammenkünften der Erwachsenen und ihrer halblauten Erzählungen in
den Wohnküchen, wenn die Juno, Overstolz oder Senoussi die Zimmer vernebelten
und die Stimmen mit jedem Hardenberger Doppelkorn lauter wurden, weil man
irrtümlich glaubte, die Kinder schliefen längst auf ihren provisorischen
Nachtlagern in den abgeteilten Ecken hinter den quergestellten Küchen-oder
Kleiderschränken. Sie schliefen natürlich nicht, vor allem nicht, wenn ihre
Tante Luzy anreiste und mit rauchiger tiefer Männerstimme erzählte, wie beim
Sturm auf Breslau Tausende tatarische Soldaten auf kleinen Pferden und
bewaffnet mit Krummsäbeln in die Stadt einfielen, hell beleuchtet von den
Flammenstürmen, die in der Stadt wüteten. Verschleppt werden, das hieß, daß er
aus dem Haus ging und nicht wieder zurückkehrte, daß er wie aus heiterem Himmel
plötzlich woanders war, nie mehr die Eltern und Geschwister sah, von
fremdartigen grausamen Wesen an unbekannte Orte gebracht, ohne Vorstellung, in
welche Richtung er sich heimwärts wenden müsse und ob es überhaupt noch eine
menschenmögliche Verbindung zur eigenen vertrauten Welt gab oder ob er nicht
bereits in einer anderen war, ganz so, wie es auch bei der Kornmuhme der Fall
sein mußte. Wenn dieses Ortlose und wahrhaft Un-Bezogene überhaupt benannt
werden konnte, dann war es eine Welt namens Pommerland, der unerreichbare und
geheimnisvolle Aufenthalt aller Verschwundenen, ein Niemandsland ohne Sonne,
Mond und Sterne, in dem die unglücklichen Seelen, die Verschleppten, Verirrten,
die Zuspätgekommenen und die hilflos Zurückgelassenen auf freiem baumlosem Feld
in Erdkuhlen hausten, von der Welt abgeschnitten durch einen einen
Stacheldrahtzaun, in unerlöstem Schicksal, das nur durch das Gedenken der Geretteten ein wenig gemildert
wurde, durch die Mahnung der Rundfunksprecher, den Vermißten und Eingesperrten
zu Weihnachten eine Kerze zu entzünden und ins abendliche Fenster zu stellen,
damit sie ihnen leuchte in dunkler Nacht. Es war eine Welt, an die zu denken
ihn mit dunkler Traurigkeit erfüllte, mit der gleichen Traurigkeit, die in ihm
aufstieg, wenn er singen hörte ‚Flieg, Maikäfer, flieg, der Vater ist im Krieg,
die Mutter ist in Pommerland, Pommerland ist abgebrannt..’, und so träumte er
nach den Berlin-Besuchen oft den gleichen Traum, in dem er durch lichte
Birkenwälder rannte, verfolgt von russischen Soldaten mit Maschinenpistolen,
die ihn einfangen wollten, um ihn ebenfalls zu verschleppen nach Pommerland...
All das verflog, wenn Alwin den
Straßenbahnschienen verließ und in die Unterführung abbog mit den
Einschusslöchern, die jetzt, fünfzig Jahre später, immer noch da waren, nach
der Unterführung kam die kleine Sackgasse mit dem schlaglochübersäten
Kopfsteinpflaster, auf dem sich jede Fahrt anhörte wie im Inneren einer großen
Trommel, sie hielten und stiegen aus und dehnten sich nach der Fahrt wie junge
Hunde, dann rannten sie die zwei Stockwerke hoch, ungeduldig, sie drehten den
Klingelknopf mit dem rostigen Klang, es wurde geöffnet - und im Türrahmen stand
der riesige Onkel und breitete die Arme aus.